Der Geheimnisvolle Garten

Isa sah Lukas unsicher an. Der Garten am Ende der Straße war seltsam. Im letzten Herbst blühten die Blumen hier länger als in den Nachbargärten und selbst als das Wetter umschlug und grau und regnerisch wurde, schien über diesem Garten die Sonne. Schon oft hatten sie hier gestanden und durch die Büsche am Zaun geschaut. Aber einfach so hineingehen?

„Ich weiß nicht“, sagte Isa, „was, wenn der Besitzer uns hinausschmeißt?“

„Wird er nicht“, Lukas wirkte sehr sicher. Er klang so überzeugt, wie beim Verstecken spielen. Da fanden sie ihn auch nie.

Isa zweifelte und spähte über den Zaun. „Wieso? Woher, weißt du das?“

„Ich habe vorgesorgt“, sagte Lukas.

Er grinste, zog einen kleinen Ball aus seiner Jackentasche, ging ein paar Schritte zurück und warf ihn in hohem Bogen über den Zaun. Verschmitzt sah er Isa an: „Jetzt müssen wir wohl unseren Ball zurückholen.“

Isa war mulmig, aber allein wollte sie Lukas nicht gehen lassen. Das Gartentor stand halb offen. Es fühlte sich an, als würde es sie magisch anziehen. Sonst war es immer verschlossen gewesen. Hatte niemanden hineingelassen.

Isa und Lukas traten ein. Das Gras war kräftig grün, gelbe und weiße Narzissen blühten hier und da. Die Sonne leuchtete warm durch das frische Blätterdach eines Apfelbaums und die Vögel zwitscherten. Es war wie in einem Traum.

„Na, Taffy, haben wir Besuch?“

Isa und Lukas zuckten zusammen. Eine alte Frau saß mit verschränkten Armen auf einer gemütlichen Schaukel im Apfelbaum. Sie hatte sie die ganze Zeit beobachtet. Eine getigerte Katze schlich um ihre Füße.

„Wir suchen unseren Ball“, sagte Lukas mit fester Stimme. Isa war dankbar, als Lukas dies sagte. Auf ihn war wirklich Verlass. Wenn er etwas anfing, zog er es auch durch. Wenn er unsicher war, behielt er es, wie in diesem Moment, für sich.

„Ich weiß, ich weiß“, antwortete die alte Frau, „ich sah den Ball über meinen Zaun fliegen.“

Sie machte eine kurze Pause.

„Und ihr seid neugierig auf den Garten. Wisst ihr, es ist ein besonderer Garten. Er hat schon auf euch gewartet. Ich wusste, dass ihr kommt. Ich bin Sophia. Ich hole euch etwas zu trinken und ein paar Plätzchen, ja?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf und ging auf das kleine Haus zu. Über die Schulter rief sie zurück: „Seht euch ruhig um und sucht euren Ball, vielleicht findet ihr ihn.“ Sie hörten sie leise lachte.

„Komm, lass und schnell den Ball suchen und verschwinden. Mir ist das nicht geheuer. Wieso hat der Garten auf uns gewartet?“ Isa bezweifelte, dass es eine gute Idee gewesen war, hierher zu kommen.

„Hör mal die Vögel“, Lukas lauschte, „hier ist es so friedlich, warm und schön.“ Lukas nahm Isa an der Hand und zog sie hinter sich her. „Nun komm schon. Denk an unseren Ball!“ Isa blieb nervös. Daran konnte Lukas nichts ändern und auch die Katze nicht, obwohl Isa Katzen sehr mochte. Es blieb ihnen nichts übrig, sie mussten schnell ihren Ball finden.

Sie gingen weiter in den Garten hinein. Im hinteren Bereich, der von der Straße nicht zu sehen war, wurden die Narzissen immer seltener. Dafür sahen sie Blumen, die bunt waren wie Papageien, alte Bäume, die ihre Äste ausstreckten als seien sie Arme und Hände und Eichhörnchen, die keine Scheu vor ihnen hatten. Das Eigenartigste war ein kleiner Bach, der zwischen den hohen Bäumen am Boden entsprang. Das Wasser sah aus, als trüge es einen Schimmer aus Gold.

Nur ihren Ball fanden sie nicht.

Als sie zurückkehrten, sahen sie unter dem Apfelbaum vier Stühle und einen Tisch stehen, auf dem Teekanne, Becher und ein Teller mit Keksen standen. Auf einem der Stühle hatte sich die Katze zusammengerollt. Als sie näher kamen, hob sie den Kopf, sprang herunter und lief zu Isa. Isa hockte sich hin und fuhr Taffy über das Fell.

Es war weich und warm und Isa vergaß für einen Augenblick den fremden Garten. Die Katze schnurrte, schmiegte sich an Isa und öffnete ein wenig ihre Augen. Isa hielt inne: Die Augen von Taffy wirkten einen kurzen Augenblick violett. Dieser Ort war wirklich seltsam.

„Ja, dieser Garten ist sonderlich“, nickte Sophia, als hätte sie Isas Gedanken gelesen, „nur wenige Menschen haben ihn je gesehen. Viele sehen einen ganz gewöhnlichen Garten, wenn sie vorüber gehen. Der goldene Schimmer der Quelle ist die Lebenskraft, die in allem verborgen ist. In allem, auch außerhalb des Gartens.“

„Wo kommen das Schimmern und die Kraft her?“ Lukas war noch nicht überzeugt. „Habe ich noch nie vorher gesehen.“ Er verschränkte die Arme.

Sophia sagte: „Es ist die Lebenskraft, die in allem steckt. Denk mal an die Sonne, den Regenbogen, die Schneekristalle, den Frühling, die Blumen …“

„Und Tiere?“ fiel Lukas Sophia ins Wort.

Sie nickte: „Und das Lachen, die Freude und alles andere, was es gibt.“

Sie saßen eine Weile schweigend und lauschten dem Wasser des Bächleins bis Sophia aufstand und sagte: „Es ist Zeit für meinen Abendspaziergang. Ihr seid dem Garten, Taffy und mir jederzeit willkommen. Kommt wieder, wann immer ihr mögt. Ich gebe euch etwas mit, als Erinnerung an die Quelle.“

Sophia öffnete ihre Hand. Ein sanfter Luftzug strich darüber und zwei goldene Windspiralen verdichteten sich zu zwei goldenen Perlen.

„Krass“, entfuhr es Lukas. „Wie hast du das gemacht?“ „Dies“, antwortete Sophia und zog die Augenbrauen hoch, „ist ein Geheimnis.“

Als die beiden sich am Gartentor noch einmal umdrehten, rief Sophia: „Taffy hat noch etwas für euch.“

Die Katze lief auf sie zu und schlug spielerisch immer wieder nach dem kleinen Ball, der ihnen entgegen rollte. Lukas streichelte die Katze und sagte: „Du darfst ihn behalten, wir brauchen ihn jetzt nicht mehr.“

Sie winkten Sophia noch einmal zu, bevor sie sich auf den Heimweg machten.

Stille-Bilder

Für die eigene Arbeit

Hinweise zur Perle

Die goldene Perle eröffnet das Perlenband. Jede Perle ist besonders und einzigartig, für die goldene gilt dies in herausgehobener Weise. Ihre Farbe, das Gold, kann unterschiedliche Assoziationen wecken: Für viele Kinder und Erwachsene ist Gold etwas besonderes. Etwas Goldenes ist oft wertvoll und kostbar, wie vielleicht eine Münze aus einem Schatz oder die Kugel des Froschkönigs aus dem Märchen. Gold begegnet Kindern aber auch im Alltagsleben: Vielleicht haben sie schon einmal goldenen Schmuck gesehen oder sie kennen goldene Ringe als besondere Zeichen für Verbundenheit. Vielleicht kennen sie auch Bilderbücher, die mit goldener Farbe verziert sind und die daher oft besonders geliebt und gehütet werden.

Im Perlenband lenkt die goldene Perle den Blick auf alles, was im eigenen Leben besonders und wertvoll ist. Etwas, das mich trägt, das mir Sicherheit, Kraft oder Hoffnung gibt, kann ein ganz besonderer Schatz sein. Viele Menschen sehen die goldene Perle als ein Bild für „Gott“ in ihrem eigenen Leben – wie auch immer sie „Gott“ selbst beschreiben. Wer, was oder wie „Gott“ für Menschen ist, lässt sich nicht abschließend  sagen, passt in kein Bild, in keine Geschichte, in keine Perle.

In der Geschichte von Isa und Lukas begegnet ihnen in Sophias Garten ein großes Geheimnis, eine Kraft, die allem innewohnt und die der Anfang für alles ist. Auch diese kann – wenn es zum eigenen Erleben und Deuten passt – mit „Gott“ umschrieben werden. Die goldene Perle kann Anlässe bieten, mit Kindern über die Einmaligkeit und ihre Lebenskraft zu philosophieren – vielleicht entwickeln sich auch Gespräche über „Gott“ und die Vorstellungen der Kinder darüber, wer, was oder wie „Gott“ für sie selbst ist.

Didaktische Ideen

Alle Materialien und Medien zur Perle dürfen für die eigene Arbeit verwendet werden. Zu jeder Perle gibt es eine Bildkarte, die farbig auf A3 gedruckt, in das klassische Erzähltheater (Kamishibai) passt. Das Geschichtenbild kann mit den Kindern zunächst betrachtet und entdeckt werden. Im Anschluss  kann die Geschichte frei erzählt oder vorgelesen werden. Die Vorlesegeschichte mit kleinen Bildelementen darf ebenfalls gedruckt und in der Kita – beispielsweise als Aushang zur Elterninformation – veröffentlicht werden. Wenn die Kinder die Geschichte kennengelernt haben, ist es möglich, eine inhaltliche Auseinandersetzung zum Thema der Perle zu ermöglichen.

Dafür bieten sich beispielsweise Gespräche über sichtbare und unsichtbare Schätze der Kinder an. Den Kindern sollten über das Sprechen hinaus unterschiedliche Möglichkeiten eröffnet werden, sich in gestaltender Form auszudrücken. In Zusammenhang mit der goldenen Perle bietet sich neben vielem anderen das Zeichnen von eigenen Schätzen im Leben oder das Packen von persönlichen Schatzkisten an (Fokus: Was stärkt mich? Was gibt mir Mut? …). In Einrichtungen, in denen explizit religionspädagogisch gearbeitet wird, eröffnen sich darüber hinaus unterschiedliche Möglichkeiten, biblische Bilder und Sätze, in denen deutlich wird, welche Bedeutung „Gott“ für Menschen in ihrem individuellen Erleben besitzt, einfließen zu lassen und mit Kindern gemeinsam zu bedenken.

In dem Perlenarmband, das vielen unter dem Namen „Perlen des Glaubens“ oder „Perlen des Lebens“ bekannt ist, folgt nach der goldenen Perle eine Perle der Stille. Um die Idee der Vertiefung und Verlangsamung in der Auseinandersetzung mit einem Thema aufzunehmen, finden Sie zwei Stille-Bilder zur goldenen Perle, die die Kinder zur eigenen Gestaltung und Vertiefung nutzen können. Die Stille-Bilder liegen als pdf-Dateien vor und dürfen für die Kinder vervielfältigt werden.


Downloadbereich

Die Bildkarte

Die Geschichte mit Bildelementen, Die Geschichte als word-Dokument (ohne Bilder)

Die Stille-Bilder: das Mandala, das Geschichtenbild

Die Geschichte zum Anhören