Das Geheimnis, das keins bleiben wollte

Als Lukas Isa heute zur Schule abholte, war etwas anders. Lukas konnte nicht sagen, was es war. Isa kam ihm still vor und sie lachte viel weniger als sonst. In der Pause hockte sie auf dem Sofa in der Leseecke, die Beine angezogen und schien den Trubel um sich herum nicht zu merken. Amira saß neben ihr und blätterte in einem Buch und auf der Sofalehne ließ Leon ein Supermobil mit Rennwagenmotor starten.
Lukas wusste nicht so recht, was er tun sollte.

Er flüsterte, damit Leon es nicht hörte:
„Isa, wollen wir raus gehen? Komm, wir können doch verstecken spielen oder fangen.“
Doch Isa schüttelte den Kopf.
„Lukas – ich will einfach hier sitzen“, sagte sie leise.
„Gut“, antwortete Lukas „dann gehe ich schon raus. Wenn du magst, kommst du hinterher, ja?“ Er stürmte davon.
Als es klingelte und Lukas reinkam, saß Isa immer noch auf dem Sofa. Er ging zu ihr und setzte sich neben sie. Irgendetwas war wirklich anders.
„Isa“, fragte er, „warum spielst du nicht mit? Ich würde gern mit dir spielen.“

Isa zuckte mit den Schultern: „Keine Lust.“
In der nächsten Pause kam Isa zu Lukas. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Er sah auf.
„Lukas, ich will dir was erzählen.“
Isa nahm ihn an der Hand und zog ihn in eine Ecke, wo sie beide ihre Ruhe hatten. Isa erzählte flüsternd und zuerst hörte Lukas aufmerksam zu, dann sprachen sie leise miteinander. Lukas sah Isa nachdenklich an. Er verstand, warum sie erschrocken und traurig war. Doch er hatte keine Idee, wie er ihr helfen konnte.
Sie saßen schweigend und plötzlich fiel Lukas etwas ein, wie ein Gedankenblitz:
„Isa, wollen wir nachher zu Sophia gehen? Sie hört uns bestimmt zu und vielleicht kann sie uns helfen.“
Isa fühlte nach, sie dachte an Sophia, Taffy und den schönen Garten. Sie nickte.

Der Garten sah heute trauriger aus als sonst. Die Blätter fielen still von den Ästen der Bäume und es schien Isa, als hätten die Farben an Leuchtkraft verloren.
Sophia sah sofort: Etwas stimmte nicht. Sie schaute Isa aufmerksam in die Augen.
„Was ist los?“ fragte sie.

Und noch bevor Isa antworten konnte, spürte sie, wie Tränen ihre Wangen herunterliefen. Sophia nahm sie behutsam in die Arme und hielt sie sicher und geborgen, bis sie alle Tränen des Augenblicks geweint hatte.
Dann erzählten beide, warum Isa so erschrocken und traurig war. Sophia hörte genau zu und sah Isa und Lukas an: „Es war eine gute Idee, zu mir zu kommen. Manche Geheimnisse wollen keine Geheimnisse bleiben.“

Nach einer Weile fragte Isa leise: „Woran kann ich das erkennen? Wie kann ich herausfinden, welche Geheimnisse keine bleiben wollen?“
„Wenn du dich nicht wohlfühlst und es dir nicht gut geht, wenn dein Herz bei einem Geheimnis nicht singt und lacht, dann ist es kein schönes Geheimnis für dich. Und dann will es auch keins bleiben.“

Isa nickte und auch Lukas hatte verstanden, was Sophia meinte.
Isa ging es etwas besser. Sie war dankbar für ihren Freund Lukas und Sophia, bei der sie jederzeit mit allem willkommen war. Die sich Zeit nahm, ihr zuhörte und ihr half, wenn sie nicht weiter wusste. Isa fühlte sich erschöpft, kuschelte sich in die Arme von Sophia und fuhr sich mit dem Handrücken durch ihr Gesicht, um die Tränen abzuwischen. Lukas zog ein weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche, damit sie ihr Gesicht trocknen konnte. Er reichte es ihr und sah zwei weiß leuchtende Perlen im Tuch verborgen. Überrascht sah er sie an. Dann reichte er eine Perle schweigend Isa, die sie dankbar mit ihrer Hand umschloss.

     

Für die eigene Arbeit

Hinweise zur Perle

Drei kleine „Geheimnis-Perlen“ haben im Perlenkranz ihren Platz. Das ermöglicht es, Geheimnisse ganz unterschiedlicher Qualitäten mit Kindern in den Blick zu nehmen. Ging es in der letzten Geheimnisperle um ein aufregendes und gewisser Weise auch gemeinschaftsstiftendes Geheimnis zwischen Isa und Lukas, steht in dieser Geschichte ein bedrückendes Geheimnis im Zentrum, das Isa belastet. Auch damit wird eine Erfahrungsdimension eröffnet, die viele Kinder kennen. Dass sie etwas erleben, das sie nicht weitererzählen sollen und das sie zugleich belastet. Manchmal sind dies gerade „Geheimnisse“, die von Erwachsenen kommen und für die die Bezeichnung „Geheimnis“ gar nicht richtig passen mag.

Diese „unaussprechlichen Geheimnisse“ bilden einen sensiblen Bereich, der im Kindergarten- oder auch Grundschulalltag oft schwer zu fassen ist. Ein achtsames und vorsichtiges Heran- und Umgehen, dass das Wohl des Kindes sowie den Respekt vor den Erfahrungen, die eingebracht werden, in den Mittelpunkt stellt, ist dabei unablässig.

In der Geschichte bleibt dieses „Geheimnis“ nicht geheim. Isa teilt es Lukas mit und dieser wiederum hat die Idee, dass es gut sein kann, das Erlebte oder Erfahrene mit einer weiteren Person zu teilen, der Isa vertraut. Dadurch verändert sich auch in dieser Geschichte die Qualität des Geheimnisses. Obwohl es womöglich die bedrückende Kraft nicht völlig verliert, so ist Isa dieser nicht mehr allein ausgesetzt.

Methodische und didaktische Ideen

Alle Materialien und Medien zur Perle dürfen für die eigene Arbeit verwendet werden. Auch zu dieser Perle gibt es eine Bildkarte, die farbig auf A3 gedruckt, in das klassische Erzähltheater (Kamishibai) passt. Hinzu kommt ein Mandala und ein Ausmalbild. Beides kann je nach Bedarf verwendet werden.

Eine Erzählrunde zur vorhergegangenen Geheimnisgeschichte oder generell zu Geheimnissen kann einen Einstieg in die Perle bieten. Erfahrungsgemäß sind Geheimnisse für Kinder im späten Kindergarten- und Grundschulalter ein sehr spannendes Thema und viele haben dazu etwas zu erzählen.
Als Symbol für den Einstieg können zwei geschlossene, unterschiedlich schwer gefüllte Schatzkästchen verwendet werden. (Falls in der Gruppe auch zur ersten Geheimnisperle gearbeitet und diese mit einem Schatzkästchen eingeleitet wurde, wird dieses erste Schatzkästchen wieder verwendet. Ein zweites, deutlich schwerer gefülltes kommt hinzu).  Die Kästchen dürfen nicht geöffnet werden. Als erster Gesprächsimpuls können die Kinder ihre Gedanken und Assoziationen zu den beiden Kästchen in die Gruppe bringen. Beide Kästchen erhalten nach dem Erzähleinstieg einen Platz in der Mitte des Erzählkreises. Dann kann die Geschichte mit der Bildkarte vorgelesen oder frei erzählt werden.  Eine zweite Erzählrunde („Kenn ihr das auch, schöne, leichte und schwere Geheimnisse?“„Wer ist für euch wie die Sophia in der Geschichte?“) kann sich anschließen und in dieser auch noch einmal auf die beiden Schatzkästchen des Anfangs Bezug genommen werden. Darüber hinaus kann den Kindern Raum gegeben werden, eigene Erlebnisse beispielsweise mit Legematerialien zu den Schatzkästchen in der Mitte zu legen. Ein Austausch über das Gelegte sollte nur erfolgen, wenn die Kinder diesen selbst wünschen.

Je nach Ausrichtung der pädagogischen und religionssensiblen Arbeit ist es im Zusammenhang mit dieser Perle möglich, einzelne Facetten des biblischen Gottesbildes aufzugreifen. Sophia ist in der Geschichte die Vertrauensperson, die in der belastenden Situation durch ihr Dasein, ihre Zuwendung und ihr Zuhören Entlastung bringt. Einzelne biblische Texte, in denen von Gott als vertrauter und beschützender Beistand in Situationen von Not und Bedrängnis erzählt wird, könnten in diesem Zusammenhang zum Thema werden. Naheliegend ist zum Beispiel der 23. Psalm oder das Gleichnis vom Verlorenen Schaf, das in vielen explizit religionspädagogisch arbeitenden Kitas bekannt ist. An dieser Stelle kann einer dieser Texte erneut aufgegriffen werden und zu einer vertieften Auseinandersetzung führen.


Downloadbereich

Die Bildkarte

Die Geschichte mit Bildelementen, Die Geschichte als word-Dokument (ohne Bilder)

Die Stille-Bilder: das Mandala, das Geschichtenbild

Die Geschichte zum Anhören