Verzwickte Lage
Isa stand vor dem Spiegel und betrachtete den Anhänger. Was sie sah, gefiel ihr sehr. Es war ein wunderschöner, bläulich weißer Stein an einem Lederband. Er hatte gestern draußen auf dem Schulhof plötzlich vor ihren Füßen gelegen. Sie hatte sich mächtig gefreut und ihn eingesteckt und eben fiel er ihr wieder ein. Sie war schnell vor den großen Spiegel im Flur gegangen und hatte ihn übergestreift. Er sah wunderbar aus, wie ein Glücksbringer. Ihr Glücksbringer.
Fröhlich hüpfte sie zurück in ihre Klasse und zog eine Malschürze über. Sie merkte schon wie er wirkte, der Stein. Sie bekam sofort gute Laune.
Lukas und Leon hatten schon begonnen und Isa gesellte sich zu ihnen. Sie schnappte sich gut gelaunt einen Pinsel. Das würde bestimmt ihr schönstes Bild werden.
„Und, was malst Du?“ fragte Leon. „Eine Glückssonnenblume“, antwortete Isa vergnügt.
Lukas sah auf: „Du hast aber gute Laune.“ Isa nickte.
„Warum? Gab´s was Besonderes?“ hakte Lukas nach.
„Hm“, Isa grinste, „ist geheim.“
Als Leon Händewaschen ging, wusste Lukas, dass er nochmal fragen konnte: „Was ist denn nun?“
„Ist aber obergeheim“, sagte Isa.
Lukas nickte. Isa zog unter der Malschürze den Stein hervor.
„Mein Glücksstein! Den habe ich gestern gefunden. Draußen. Na? Toll, oder?“
„Ja, echt krass“, sagte Lukas, „und so schön.“
Da kam Leon zurück und Isa ließ den Stein schnell unter ihr T-Shirt gleiten.
„Hört mal“, rief Frau Bredo, „Armina hat eine Frage an euch alle.“
„Ich“, begann Armina, die neben der Lehrerin stand, „also ich habe gestern meinen Stein verloren.“
„Wer ihn findet, gibt ihn bitte Armina zurück“, fügte Frau Bredo hinzu.
Lukas sah Isa an, die gar nicht reagierte und knuffte sie in die Seite. Er flüsterte: „Das könnte er doch sein! Du musst Armina fragen!“
Isa flüsterte zurück: „Das weißt Du doch gar nicht. Sie redet ja von irgendeinem Stein. Meinen hab ich gestern gefunden. Ich kann ihn nicht einfach zurückgeben. Ich weiß ja nicht mal, ob es ihrer ist. Und wenn Armina ihn sieht, sagt sie bestimmt, es wäre ihrer, auch wenn es gar nicht stimmt.“ „Dann fragen wir sie eben“, meinte Lukas. „Ach, lass mich doch in Ruhe“, zischte Isa.
Damit war das Gespräch beendet und jeder malte weiter an seinem Bild.
Armina kam an ihren Tisch. Sie hatte sich auch ein Blatt geholt und Lukas fragte beiläufig: „Wie sah er denn aus, dein Stein?“ Isa sah er dabei nicht an. „Blau – weiß, so wie der Drache, den ich jetzt anfange. Es war mein Drachenstein. Mit ihm konnte ich abends einen weißen, wunderschönen Drachen rufen, der sich vor meinem Bett zusammenrollte. Für andere ist er natürlich unsichtbar. Ohne ihn kann ich nicht so gut schlafen. Ich hoffe, dass ihn jemand findet.“ Damit wandte sie sich wieder ihrem Blatt zu. Lukas sah Isa von der Seite an, sagte aber nichts.
Isa hatte schweigend zugehört. Ihr war nicht wohl. Vielleicht war es doch Arminas Drachenstein? Andererseits: Sie hatte ihn gefunden. Er hatte direkt vor ihren Füßen gelegen. Er war jetzt ihr Glücksstein. Isa malte weiter an ihrer Sonnenblume und schob den Gedanken an den Stein zur Seite.
Für die Blütenblätter nahm sie leuchtend gelbe Farbe. Gelb fand Isa, war eine fröhliche, gute Laune Farbe. Dann kehrten ihre Gedanken zurück zu dem Stein. Sie wollte ihn ansehen, aber hier ging das natürlich nicht.
„Ich muss mal“, sagte sie zu den anderen und ging zur Toilette, machte die Tür hinter sich zu und zog den Stein hervor. Eine so schöne Farbe hatte er, aber irgendwie war das Glücksgefühl nicht mehr so stark. Es mischte sich mit dem Gefühl an Armina, ihren Drachen und ihrer Suche nach ihrem Drachenstein. Was sollte sie jetzt bloß tun? Ihn Zurückgeben? Behalten? Er war so wunderschön. Isa versteckte ihn wieder unter dem T-Shirt.
Draußen auf dem Flur stand Lukas. Er hatte auf sie gewartet. Isa war genervt: „Du brauchst gar nichts sagen, ich muss ihn zurückgeben.“
Tränen standen ihr in den Augen.
„Ich…“, weiter kam Isa nicht. Lukas fiel ihr ins Wort: „Ich habe noch gar nichts gesagt. Ich weiß nur nicht, was wir machen sollen.“ Isa sah Lukas überrascht an: „Du sagst nicht, ich muss ihn sofort zurückgeben?“
„Nee, ich sage: ich weiß nicht, was wir machen sollen“, wiederholte Lukas, „wir denken beide, es ist der Stein, den Armina verloren hat. Du hast ihn gefunden. Für Armina ist er ihr Drachenstein, für Dich dein Glücksstein.“
„Aber das Glück hat abgenommen“, antwortete Isa, „wenn ich den Stein ansehe, denke ich daran, dass Armina ihn vermisst. Ich kann ihn nicht mehr anschauen, ohne an Armina zu denken.“
„Und ständig verstecken kannst du ihn auch nicht“, meinte Lukas.
Isa schwieg. „Lukas, ich behalte ihn, bis ich fertig bin mit meinem Glücksbild. Hilfst du mir ihn danach zurückzugeben? Ich will nicht, dass Armina weiß, dass ich ihren Drachenstein schon die ganze Zeit hatte.“ Lukas nickte.
Isa entschied sich, den Stängel und die Blätter ihrer Sonnenblume weiß-bläulich zu malen in der Farbe des Glücksteins als Erinnerung an seine Schönheit und das Glücksgefühl.
Sie winkte Lukas mit ihr nach draußen zu gehen, zog das Lederband über den Kopf und sagte: „Komm. Jetzt ist der Moment.“
Armina stand gerade mit Leon zusammen. Sie betrachteten die fertigen Bilder.
„Armina“, Isa streckte die Hand mit dem Stein aus, „ist er das?“ Über Arminas Gesicht ging ein Strahlen. „Oh ja. Ja!“, rief sie und klatschte in die Hände, „Mein Drachenstein. Oh vielen, vielen Dank! Wann habt ihr ihn gefunden?“
Isa schwieg. Sie wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie wollte Armina nicht anlügen. Da hörte sie Lukas mit fester Stimme sagen: „Das ist ein Beste-Freunde-Geheimnis.“
Armina war überglücklich und brachte Isa und Lukas am nächsten Tag zwei weiße Perlen mit. Sie sagte, der Drache habe sie von einer langen Reise mitgebracht.